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Gute-Nacht-Geschichte "Die verzauberte Hecke"

Gute-Nacht-Geschichte "Die verzauberte Hecke"

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Eine Geschichte von Marie-Isabell Mitschke

Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Schon den ganzen Morgen lang suchte Sophie ihre Puppe und konnte sie einfach nicht finden. Das ganze Haus hatte sie auf den Kopf gestellt und ihr Zimmer, den gesamten Dachboden und sogar die Wohnstube ihrer Eltern durchsucht, ohne auch nur eine Spur von ihrer sonst so sorgsam gehüteten Freundin zu entdecken. Dabei versprachen die ersten Sonnenstrahlen, die ihre Haut sanft kitzelten, einen besonders schönen Tag, den Sophie gerne mit ihrer kleinen Charlotte im Garten verbracht hätte.

Doch so sehr sich Sophie auch bemühte, so langsam dämmerte es ihr, dass aus dem netten Garten-Rendezvous mit ihrer Puppe heute nichts werden würde. Missmutig ließ sie sich auf die Stufen der Veranda sinken und blickte hinaus in den grünen, blühenden Garten, der mit seinen morgendlich glitzernden Wassertropfen auf der Wiese und den Büschen irgendwie ein bisschen zu idyllisch wirkte.

»Was soll‘s«, seufzte Sophie und machte sich nach ein paar Minuten schließlich alleine auf den Weg in das grüne Getümmel, das sich vor ihren Füßen ausbreitete. Vielleicht würde sie ja an ihrem Lieblingsplatz, einer kleinen, zwischen Hecken versteckten Nische am anderen Ende des Gartens, ihre gute Laune wiederfinden. So dauerte es nicht lange, bis sie es sich zwischen Zweigen und Blättern bequem gemacht hatte und mit großen Augen das Licht- und Schattenspiel der Baumkronen über sich beobachtete, während zahlreiche Vögel fröhlich zwitscherten und irgendwo eine Grille leise vor sich hin zirpte. Ein sachtes Krabbeln auf ihrer Hand zog ihren Blick schließlich auf einen kleinen Marienkäfer, der ihre Finger wohl als willkommene Abkürzung zu einem Zweig in der Hecke betrachtet hatte. Interessiert folgte Sophie dem drolligen Kerl mit seinen lustigen Punkten und hatte ihn schon bald aus den Augen verloren, als eine unverhoffte Entdeckung ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Vor ihr, versteckt zwischen vielen kleinen Ästen und Blättern, lugte die kleine Charlotte hervor und schien sie mit ihren Puppenaugen munter anzublinzeln! Sophie traute ihren Augen kaum. Wie hatte es ihre Puppe nur bis hierher in den Garten und so tief in die dicht gewachsene Hecke geschafft? Erst gestern Abend noch hatten die beiden zusammen in Sophies Zimmer gespielt, bevor die Mama sie ins Bett geschickt hatte!
Sophie kam jedoch nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, denn als sie sich tiefer in die Hecke zu ihrer Puppe beugte, ertönte ein leiser Knall und mit einem »Puff, Beng, Bumm« schien sich alles um das Mädchen herum zu drehen und in die Höhe zu schießen. Benommen schüttelte Sophie den Kopf und staunte nicht schlecht, als sie sich plötzlich unter riesigen Schirmpilzen und Astgewölben mit Blättern so groß wie Schiffssegel wiederfand. Die Grashalme kitzelten sie am Kinn, und als sie sich umblickte, entdeckte sie den Marienkäfer, der vorhin noch auf ihrem Finger gesessen hatte und nun, gleich einem Pferd, beinahe an ihr vorbeizugaloppieren schien. Auf seinem Rücken saß ein kleines Männchen, das immerzu hin- und herschaukelte und dabei in seinem übergroßen orange-gelben Flickenmantel einen amüsanten Eindruck machte.

Als es Sophie entdeckte, sprang es vom Rücken seines wundersamen Reisegefährts herunter, schnappte das Mädchen an der Hand und hatte seinen Weg schon fortgesetzt, noch bevor dieses überhaupt wusste, wie ihm geschah. Schon wandte es sich an Sophie, die alle Hände voll zu tun hatte, nicht von dem glatten Marienkäfer herunterzurutschen: »Erlaube mir, dass ich mich vorstelle: Ich bin der Wächter Kunibert und ich habe den Befehl, dich zum König zu bringen!« – »Zum König? Wen meinst du? Und warum bin ich überhaupt hier?«, entgegnete Sophie überrascht und wusste nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. – »Du kennst unseren König nicht? Darf ich vorstellen: Ihre Majestät König Kunibert der Erste und erlauchtester Gebieter über das Heckenreich!« Bei diesen Worten kramte das Männchen eine kleine schiefe Krone aus Geäst unter seinem Mantel hervor und setzte sie sich flink auf den Kopf. Sophie konnte sich bei diesem Anblick das Lachen nicht verkneifen und hörte kaum hin, als das Männchen fortfuhr: »Als Menschenkind musst du dem König gehorchen, seine Bediensteten respektieren und allen Einwohnern des Heckenreiches ihre Wünsche von den Lippen ablesen!«

Sophie starrte den gekrönten Kunibert mit großen Augen an. »Wenn du ein Wächter bist und gleichzeitig auch der König«, fragte sie, »wer sind dann die ganzen Mägde, Angestellten und Untertanen, von denen du sprichst?« – »Na kannst du sie denn nicht sehen? Sie sind hier und dort und überall!« Bei diesen Worten hüpfte Kunibert umher, unter Zweigen hindurch und über Blätter hinweg, präsentierte sich in immer neuen Posen und formte sich Kopftücher aus Grashalmen oder Regenschirme aus Pilzen. Sophie war so verwundert, dass ihr der Mund vor Staunen offenstand. Offenbar bestand das gesamte Heckenvolk nur aus diesem wundersamen kleinen Kerl, der jede seiner Rollen so sehr liebte, dass ihm vermutlich nicht mal aufgefallen war, wie allein er hier lebte.
»Worauf wartest du?«, rief das Männchen ihr zu und Sophie kam gar nicht dazu, über den Sinn seiner Frage nachzudenken. Schon hatte Kunibert sie wieder bei den Händen gegriffen und plapperte munter auf sie ein: »Die Untertanen haben in ihrem Reich ein riesiges Geschöpf entdeckt, wie ein Menschenkind, nur viel größer als du! Weil es dir gehört, möchten sie, dass du es ihnen gibst, damit die Kinder einen Gefährten zum Spielen haben. Du musst dir nur wünschen, dass es kleiner wird, dann können sie es auch schon an sich nehmen!«

Sophie spürte einen dicken Kloß im Hals, als sie daran dachte, ihre geliebte Charlotte einem anderen überlassen zu müssen: »Aber…« – »Vergiss nicht, ich bin der König und Menschenkinder müssen mir gehorchen!«, fiel ihr Kunibert ins Wort. »Ich zähle bis drei, dann schließt du die Augen und denkst an deinen Wunsch!« Voller Vorfreude auf seinen neuen Spielkameraden hüpfte Kunibert auf und ab, hielt jedoch inne, als er die Tränen in Sophies Augen entdeckte: »Warum weinst du?« Sophie seufzte und erklärte ihm schniefend, dass die Puppe ihre beste Freundin sei, die sie nie im Stich lassen könnte. Da ergriff den kleinen Mann das Mitleid, er zog zwei Taschentücher aus seinem Flickenmantel hervor und stimmte in Sophies Tränenfluss mit ein. »Aber ich bin doch auch alleine und wünsche mir nichts sehnlicher als einen Freund«, klagte Kunibert mit hängendem Kopf.
So saßen sie beide nebeneinander unter einem großen Schirmpilz und hingen ihren Gedanken nach. Die Nachmittagssonne stand schon hoch am Himmel, als Sophie plötzlich eine Idee hatte und begeistert meinte: »Hör zu, mein lieber Kunibert: Wir beide können doch Freunde sein! Ich kann dich jeden Tag besuchen und wenn du möchtest, bringe ich auch Charlotte mit. Du musst uns beide nur klein zaubern, dann können wir zusammen auf Entdeckungstour gehen!«

So kam es, dass Sophie und ihre Puppe den kleinen Mann jeden Tag in seiner Hecke besuchten und mit all den gemeinsamen Erlebnissen nicht nur eine neue Sichtweise auf die Welt in ihrem Garten, sondern auch einen engen und treuen Freund gewannen, mit dem sie viele schöne Erinnerungen teilten.

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